Mittwoch, 27. Juni 2012

"das minimum von concretem Judenthum" Paul Ruben an Aby Warburg, 24. April 1897

Aus aktuellem Anlass (Stichwort: Beschneidung) ein von mir bereits 2001 publizierter Brief von Paul Ruben an Aby Warburg. Hamburg, 24. April 1897. Handschriftlich (Archiv des Warburg Institute, General Correspondence)

bei St. Johannis 10. Pöseldorf. den 24. 4. 97.

Lieber Aby.

Da die geplante Ehe nicht durch eine jüdische Trauung consecriert wird, so existiert sie als solche auch natürlich so wenig für das jüdische kanonische Recht, wie für das christliche. Falls sich Kinder einstellen, so gehören sie nach jüdischem Recht zur Religion der Mutter. In den jüdischen Religionsverband aufgenommen werden können sie nur wie gerim, (proselytoi, paroikoi), d. h. irgend jemand – beispielsweise Dein Bruder Max, oder er durch die zuständig gemachte locale Behörde (die Gemeinde) – reklamieren das Kind für die Judenschaft. Ein Mädchen bedarf dann einfach der Taufe (tebilah), ein Junge der Taufe plus circumcisio.
Soweit dies; ich habe Hn. Dr Maybaum über die Sache gesprochen, dem erst durch meine Suggestion, die Kinder in solchem Fall als gerim zu behandeln, der Fall möglich erschien. Nachher sagte er: die theoretischen Bedenken, die man a priori erheben müsse, verlören a posteriori, gegenüber dem fertigen Factum (d. h. dem Vorhandensein einer Mischehe und dem Willen, die Kinder zu Juden zu machen) an Kraft. Ist Dir etwas unklar, so frage mich.
Was die „Barbarei“ der h. Handlung angeht, so kann ich nicht ganz einstimmen. Unter der gebildeten christlichen Einwohnerschaft von Oxford ist gut die Hälfte aller Jungens beschnitten. Dies weiß ich von dem bekannten Armenologen F. C. Conybeare , mit dem ich gut bekannt bin. Wenn die gebildetste Stadt einer „Culturnation“ das nicht so schrecklich findet – meinetwegen aus sanitären Gründen – dann brauchen wir uns nicht so sehr darüber zu erschrecken, wenn es aus andren respectablen Gründen gefordert wird. Ich glaube nicht, daß hier Mißtrauen gegen Deinen Charakter vorliegt, sondern daß die Beschneidung das minimum von concretem Judenthum darstellt, das Dein Vater seinethalben und der Welt halber zu fordern sich für verpflichtet hält.
Falls ich Dir in irgendwelcher Weise dienlich sein kann, schreibe mir ungeniert und verfüge ganz über mich. Besten Gruß an John.
Dein treuer Lbb.
Paulus.

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Kommentierung in Björn Biester: Der innere Beruf zur Wissenschaft: Paul Ruben (1866–1943). Studien zur deutsch-jüdischen Wissenschaftsgeschichte. Mit einem Anhang: Edition und Kommentierung des Briefwechsels mit Aby M. Warburg, Hermann Usener, Ludwig Binswanger, Fritz Saxl, Gertrud Bing, Alfred Vagts, Hans Meier, Fritz M. Warburg und Carl A. Rathjens. Berlin und Hamburg: Dietrich Reimer, 2001 (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 14), S. 215 f.

Freitag, 1. Juni 2012

"In voller Fahrt durchs Bildermeer"

Morgen in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (31. Mai 2012): Julia Voss bespricht den neuen Band der Warburg-Studienausgabe (hrsg. von Uwe Fleckner und Isabella Woldt). Die beiden Schlusssätze der Rezensentin: "Der vorliegende Band führt mit großer Kennerschaft durch das weitverzweigte Gedankengebäude, das Warburg unvollendet zurücklassen musste. Wäre es denn schlimm zuzugeben, dass einige Räume davon zeitgenössisch wirken, andere aber heute museal geworden sind?"

Nachtrag 1. Juni 2012: die Besprechung jetzt auch auf faz.net