Montag, 29. August 2022

Aby Warburg Briefe - Besprechung der Auswahlausgabe

Aby Warburg: Briefe. Hrsg. von Michael Diers und Steffen Haug mit Thomas Helbig. 2 Bde. (Aby Warburg: Gesammelte Schriften, Studienausgabe, Bd. V.1 und V.2). De Gruyter. Berlin und Boston 2021. 783 und 647 Seiten; www.degruyter.com/document/isbn/9783110533699/html

rezensiert von Björn Biester, bjoern.biester@gmail.com

Im März 1984 fand auf Einladung der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg ein Kolloquium zu Problemen und Perspektiven einer Edition der Korrespondenz des Hamburger Kunst- und Kulturhistorikers Aby Warburg (1866–1929) statt. Initiatoren des Kolloquiums waren Henning Ritter und Martin Warnke, die sich seit den 1970er Jahren mit Warburg befasst hatten und auf der Suche nach Mitstreitern waren. Im Rahmen des Kolloquiums konnte Einvernehmen erzielt werden, dass es sich um eine relevante Aufgabe handelte: Warburg habe, wie es ein Tagungsbericht festhält, „so stark durch seine Persönlichkeit gewirkt“, dass seine Briefe „eine wesentliche Voraussetzung zum Verständnis seines Werks“ seien.[1]

Seit 1981 lag die auf Ritter zurückgehende deutsche Übersetzung der „intellektuellen“ Warburg-Biographie von Ernst H. Gombrich vor, deren Originalausgabe 1970 in London erschienen war. Dieter Wuttkes Reader mit ausgewählten Schriften und Würdigungen Warburgs von 1979 hatte rasch eine Neuausgabe erlebt. Das Interesse nicht nur des akademischen Publikums war vorhanden, wie auch der 1979 gestiftete Aby-M.-Warburg-Preis des Hamburger Senats und die 1983 erfolgte Eintragung des Gebäudes der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in Hamburg in die Denkmalliste belegen.

Im Anschluss an die Tagung in Bad Homburg transkribierte Michael Diers die von Warburg von 1905 bis 1918 geführten sechs Briefkopierbücher, die circa 2.200 Schreiben enthalten und im Archiv des Warburg Institute in London verwahrt werden. Das Ergebnis dieser 1988 abgeschlossenen mühevollen Arbeit – Warburgs Handschrift lässt sich manchmal schwer entziffern, überdies sind nicht wenige Abklatschkopien verwischt – blieb ungedruckt. 1991 veröffentlichte Diers auf der Grundlage der von ihm angefertigten Transkriptionen die Studie Warburg aus Briefen. Kommentare zu den Kopierbüchern der Jahre 1905–1918, konzipiert als hinweisendes „Vademekum“. Im Rückblick auf diese Untersuchung heißt es in der Einleitung der Briefedition (Bd. V.1, S. 24 f.): „Sie war als Probe aufs Exempel einer Analyse des Warburgschen epistolographischen Schrifttums angelegt und wollte zeigen, wie inhaltlich aufschlussreich und anregend die Lektüre der Briefe sein konnte.“

Das in den Blick genommene Hauptprojekt, eine große Auswahledition der Korrespondenz Warburgs, kam allerdings über fast zwei Jahrzehnte nicht voran und wurde erst ab 2012 wieder aufgenommen. Dass das Unternehmen, auf den Zeitraum 1886 bis 1929 ausgedehnt, zum Abschluss gelangt ist, verdankt sich der Ausdauer der Beteiligten und der Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung. Für die Beschäftigung mit Aby Warburg und seiner 1933 von Hamburg nach London verlagerten Bibliothek ist die von Michael Diers zusammen mit Steffen Haug und Thomas Helbig herausgegebene Briefedition in zwei Teilbänden – mit über 1.400 Druckseiten und zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen – ein Meilenstein.

 

I.

Geboten werden in der Edition in fortlaufender Nummerierung 806 Schreiben Warburgs an etwa 270 Empfänger. Das schließt Entwürfe und mehrere von Aby Warburg zusammen mit der Ehefrau Mary verfasste Familienbriefe an Warburgs Eltern ein. Briefe an Warburg – etwa 18.000 sind im Archiv des Warburg Institute in London vorhanden – werden lediglich hier und da in den Kommentaren angeführt, um Bezüge zu erläutern. Der Verzicht auf die Wiedergabe von Gegenbriefen – „aus Platzgründen“, wie es in der von Michael Diers „für die Herausgeber“ gezeichneten Einleitung lapidar heißt (Bd. V.1, S. 35, Anm. 91) – ist eine schwerwiegende Entscheidung, zumal angesichts der eigentlich hervorragenden Ausgangslage für eine Edition mit Briefen und Gegenbriefen. Dass die Adressaten „mit ihren Stellungnahmen häufig mittelbar in Warburgs Schreiben präsent“ sind, stimmt wohl, lässt sich aber nicht nachvollziehen. Geboten wird in der vorliegenden Ausgabe ‚Warburg pur‘ und hochkonzentriert. Diesen nicht ganz unproblematischen Effekt unterstreicht die von den Herausgebern vorgenommene Aufteilung von Briefen und Kommentierung auf zwei Bände, „um Warburgs Briefe für sich stehen und sprechen zu lassen“ (Bd. V.1, S. 28).

Der erste wiedergegebene Brief datiert auf den 19. Oktober 1886, adressiert aus Bonn an die Mutter Charlotte Warburg. Die letzten beiden Briefe, gerichtet an den Antiquariatsbuchhändler Erwin Rosenthal in München und an Warburgs Mitarbeiter Fritz Saxl in London, wurden am 26. Oktober 1929 in Hamburg verfasst. Wenige Stunden später erlag Warburg – trotz seines „sehr prekären Gesundheitszustandes“ (Bf. 803) unerwartet – den Folgen eines Herzinfarkts. Die Edition deckt mithin eine Zeitspanne von 43 Jahren ab. Hin und wieder werden zwei oder drei unter demselben Datum verfasste Briefe wiedergegeben (z. B. Bf. 288 und 289, 457 und 458 sowie 371, 372 und 373). Manchmal liegen Wochen oder Monate zwischen der von den Herausgebern ausgewählten Korrespondenz. Auf einen Brief an Alfred Doren vom 30. April 1925 (Bf. 684) folgt ein auf den 11. August 1925 datiertes Schreiben an den Klassischen Archäologen Ferdinand Noack (Bf. 685), den Warburg zu einem Vortrag nach Hamburg einlädt. Eine für den Neubau der Bibliothek Warburg besonders wichtige Phase, die mit der Grundsteinlegung an Friedrich Nietzsches 25. Todestag im August 1925 schließt, bleibt damit unberücksichtigt (den Bibliotheksneubau behandeln z. B. Briefe an den Architekten Gerhard Langmaack, Bf. 680, die Brüder Max, Paul, Felix und Fritz Warburg, Bf. 682, sowie Fritz Schumacher, Bf. 689).

Die größte zeitliche Lücke betrifft die Zeit nach Warburgs völligem Nervenzusammenbruch im Herbst 1918, der mit dem für das Deutsche Reich desaströsen Kriegsende zusammenfiel. Am 30. Oktober 1918 schrieb Warburg an Wilhelm von Bode (Bf. 610): „Mir geht es leider so entsetzlich schlecht dass ich nicht imstande sein werde, meine Studie über Ferrara abzuschliessen oder gar zu veröffentlichen. Ich kann daher leider Ihren Wunsch, so gerne ich es möchte, nicht erfüllen und bitte Sie, mir deswegen nicht zu zürnen.“ Der nächste wiedergegebene Brief, auf den 7. September 1919 datiert, ist aus Alsbach an der Bergstraße an Mary Warburg gerichtet und enthält ein medizinisches „Bulletin“ des schwer Erkrankten (Bf. 611).

Briefe Warburgs vor dem Studienbeginn 1886 enthält die Edition nicht. Einzige Ausnahme ist ein in Frankfurt am Main verfasster Doppelbrief des Zwölfjährigen an die Großmutter Sara Warburg und eine Tante in Hamburg vom April 1879, der in der Einleitung mitgeteilt wird, weil eine Integration in die Briefauswahl „den von den Herausgebern als Rahmen gewählten Zeitraum gesprengt hätte“ (Bd. V.1, S. 31). 

 

II.

Eine Kapitelgliederung der Briefe haben die Herausgeber nicht vorgesehen. Die fast überbordende Themenfülle der Korrespondenz kann hier nur in Stichworten angedeutet werden. In den frühen Briefen ab Herbst 1886 – fast ausschließlich an die Mutter gerichtet – geht es um die Studien- und Freizeitgestaltung des Bonner Studenten, Verwandte und von Warburg erbetene Versorgungslieferungen aus Hamburg (Wein, Zigarren, Lebensmittel, Kleidung). Warburg setzte sich mit seiner jüdischen Herkunft auseinander und rang als Bonner Student um die von seinen Eltern gewünschte Einhaltung der entsprechenden Speisevorschriften, wie ein Brief vom Januar 1887 belegt (Bf. 7): „Was Du mir, liebste Mama, von dem schreibst, was mit dem Anders-Essen wegfallen würde, so muß ich Dir bemerken, daß Du mir Unrecht thust. Daß ich Jude bin, schäme ich mich ganz und garnicht, sondern suche im Gegentheil den Anderen zu zeigen, daß Vertreter meiner Art wohl geeignet sind, sich nach Maßgabe ihrer Begabung als nützliche Glieder in die Kette der heutigen Cultur- und Staatsentwicklung einzufügen […].“[2]

Von Antisemitismuserfahrungen spricht ein Brief aus Straßburg vom November 1889 (Bf. 47): „Alle Menschen – Studenten oder Professoren – die ich näher kennen lernte, und das sind ziemlich viele recht nette Leute, zeigen mir Vertrauen und Wohlwollen. Aber, aber! Dieses Volk hier ist widerlich: ich kann des Tags nicht ausgehen, ohne ein paarmal hinter mir her constatirt zu hören: ‚Desch ischt e Jud!‘“ Auf den einjährigen Militärdienst, den der frisch Promovierte 1892/93 in Karlsruhe absolvierte, folgten längere Italien-Aufenthalte und Warburgs große Nordamerika-Reise von Herbst 1895 bis Frühsommer 1896, die ihn von New York bis nach New Mexico, Kalifornien und Arizona führte (Bf. 126 bis 143).

Im Oktober 1897 heiratete Warburg die aus einer protestantischen Familie der Hamburger Oberschicht stammende Mary Hertz, die er 1888 in Florenz kennengelernt hatte und deren bemerkenswerte künstlerische Betätigung als Malerin und Bildhauerin erst jüngst eine angemessene Würdigung erfahren hat.[3] Vor allem Warburgs konservativer Vater stand der Verbindung zu einer Nichtjüdin zunächst ablehnend gegenüber; die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn reflektieren eine ganze Reihe von Briefen, auch wenn in der Edition nur der Sohn zu Wort kommt. Zum familiären Bruch kam es allerdings nicht, was sich wohl nicht zuletzt der diplomatischen Klugheit des jüngeren Bruders Max Warburg und des künftigen Schwagers John Hertz verdankte.

Wie ein roter Faden zieht sich Aby Warburgs Ringen um berufliche Perspektiven und akademische Anerkennung durch die Korrespondenz – im Gegensatz zu seinen Brüdern trat er nicht in das seit 1798 in Hamburg bestehende Bankhaus M. M. Warburg & Co. ein, sondern entschied sich für ein geisteswissenschaftliches Studium und eine kunstgeschichtliche Promotion über Sandro Botticelli an der Straßburger Kaiser-Wilhelms-Universität. 1906 und 1907 – Warburg hatte als von der Familie alimentierter Privatgelehrter inzwischen das 40. Lebensjahr erreicht – spitzten sich persönliche Zukunftsfragen zu. Ein Brief an Max L. Strack vom August 1906, in dem es um Formalitäten einer Habilitation Warburgs in Bonn ging, enthält eine pessimistische Selbstauskunft (Bf. 302): „Daß ich etwa noch ‚Carriere mache‘ glaube ich ganz und garnicht; darum muß aber mein erster Schritt so sein, daß er auch mein letzter sein darf.“ Im Mai 1907 schrieb Warburg an den Bonner Kunsthistoriker Paul Clemen (Bf. 326) resigniert: „Dann geht es eben f. mich mit d. akad. Beruf überhaupt nicht mehr und ich muß versuchen, mich anders nützlich zu machen, soweit ich kann.“

Die Abwendung von einer konventionellen akademischen Laufbahn begleitete der sukzessive Ausbau der privaten Bibliothek Warburgs, deren Institutionalisierung nach der Jahrhundertwende in den Blick ihres Besitzers rückte. Für Warburg war es wichtig, die nicht nur ideelle Unterstützung vor allem seiner Brüder Max, Paul und Felix zu gewinnen. Ein Brief an Felix Warburg vom Juni 1908 hob, im Blick auf eine systematische Erweiterung seiner Bibliothek, „Spekulatives auch in geistiger Beziehung“ als „das größte Privilegium des privaten Kaufmanns“ hervor (Bf. 354): „Der kann dann endlich einmal etwas thun, was der Staat niemals thun kann: Wissenschaft fördern ohne beamtlich zu knechten!“ Im Februar 1912 verlieh der Hamburger Senat Warburg den Professorentitel (Bf. 442) – für Warburg eine wichtige Würdigung seiner Verdienste um die Vaterstadt (seine Mutter stammte aus Frankfurt am Main), zu der er ein durchaus ambivalentes Verhältnis pflegte (vgl. z. B. Bf. 419, 537 und 736). Anfang 1914 umfasste Warburgs in seinem Privathaus untergebrachte Bibliothek – verstanden als „Studienstätte für kulturwissenschaftliche Ikonologie (unter besonderer Berücksichtigung der Verkehrsprobleme auf dem Gebiete internationaler Bilderwanderung)“ – circa 18.000 Bände und stand „wissenschaftlichen Benutzern“ werktäglich zwei Stunden offen (Bf. 491; vgl. Bf. 457).

Das Kunsthistorische Institut in Florenz, an dessen Geschicken Warburg seit der Gründung Anteil nahm, thematisieren Briefe beispielsweise an Wilhelm von Bode, Heinrich Brockhaus und Adolph Goldschmidt. Warburg schrieb ferner über in Vorbereitung befindliche Veröffentlichungen und Vorträge, bemühte sich um Auskünfte aus Bibliotheken, Museen und Archiven, korrespondierte mit Kollegen, besuchte Kunstausstellungen, nahm an wissenschaftlichen Kongressen im In- und Ausland teil oder trat selbst als tatkräftiger Tagungsorganisator auf (vgl. z. B. Bf. 452 und 453). Hamburger Themen sind beispielsweise die Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg, das – von Warburg befürwortete – monumentale Bismarck-Denkmal von Hugo Lederer (Bf. 248; vgl. Bf. 470) und sein Engagement um die künstlerische Ausstattung des Hamburger Rathauses (gegen den von Warburg als „Raub-Vogel“ geschmähten Maler Hugo Vogel). Sein Einsatz als Kunstberater für Albert Ballin und die Reederei Hamburg-Amerika-Linie verlief wenig erfolgreich (Bf. 469 und 474). Neben das Hamburger Kolonialinstitut traten später Angelegenheiten der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung, in deren Kuratorium Warburg 1915 berufen wurde, sowie der 1919 begründeten Universität, um die in der Hansestadt unter Warburgs Beteiligung lange gerungen worden war. Die 1926 anlässlich seines 60. Geburtstags erfolgte Ernennung zum korrespondierenden Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften freute Warburg sehr. An Fritz Saxl schrieb er in dieser Angelegenheit (Bf. 705): „Sie wissen, dass diese Ehrung eine der wenigen ist, auf die ich Wert lege; nicht zum wenigsten, weil sie unserem Institut den Rücken stärkt, was immer noch nötig ist. Sie wußten wohl davon?“

Im August 1924 kehrte Warburg nach langem Aufenthalt aus dem Kreuzlinger Sanatorium nach Hamburg zurück. Bis zu seinem Tod blieben ihm fünf produktive Jahre (Bf. 663 bis 806). Das Warburg-Wort von einer „Heuernte bei Gewitter“ („und ich bin dabei noch nicht einmal sicher, ob die ganze Ladung von mir hereingebracht wird“; Bf. 803 an Karl Vossler) trifft es sehr gut. Bald nach der Rückkehr begannen die Planungen für ein Bibliotheksgebäude auf dem freien Grundstück neben dem 1909 bezogenen privaten Wohnhaus in der Heilwigstraße. Am 1. Mai 1926 konnte der moderne Bibliotheksbau, heute als Warburg-Haus eine Einrichtung der Universität Hamburg, mit Ernst Cassirers Vortrag über Freiheit und Notwendigkeit in der Philosophie der Renaissance eingeweiht werden. Vom Bilderatlas Mnemosyne, dem unvollendeten Großprojekt der letzten Lebensphase Warburgs, handeln viele Briefe. Als Ergänzung eines Schreibens an den Verleger Max Friedrichsen vom Mai 1928 (Bf. 749) enthält der Kommentarband den Entwurf eines Verlagsvertrags für einen „Atlas über das Nachleben der antiken Formen“ (Bd. V.2, S. 532–534). Als in Hamburg die Planungen für einen Umbau des 1924 außer Betrieb gestellten Stadtpark-Wasserturms für ein Planetarium begannen, sah Warburg darin eine Chance für eine von seiner Bibliothek kuratierte Ausstellung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde (z. B. Bf. 736 und 757). Die Eröffnung der Ausstellung im Frühjahr 1930 erlebte Warburg nicht mehr.

 

III.

Allein im Warburg Institute in London liegen rund 10.000 Briefe Warburgs, von denen in der Edition weniger als zehn Prozent wiedergegeben werden. Die Auswahl beansprucht Repräsentativität, „den Genres und Anlässen seiner Schreiben wie den Stationen“ der Vita Warburgs nach (Bd. V.1, S. 27). Das „Register der Briefempfänger“ zeigt, dass viele Adressaten nur mit einem oder zwei Briefen vertreten sind. Das gilt für Persönlichkeiten wie Cyrus Adler, Bernard Berenson, Franz Boas, Robert Davidsohn, Albert Einstein, Karl Lamprecht, Max Liebermann, Thomas Mann, Charles Eliot Norton, Kurt Riezler, Fritz Schumacher, Gershom Scholem, Percy Ernst Schramm, Max Slevogt, Hermann Usener, Karl Vossler, Max Weber und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, aber auch für Gertrud Bing, enge Mitarbeiterin Warburgs in seinen letzten Lebensjahren und Begleiterin auf einer ausgedehnten Italienreise 1928/29. Ernst Cassirer und Erwin Panofsky, für Warburg bedeutsame Kollegen, kommen mit sechs beziehungsweise fünf Briefen vor.[4]

Die häufigsten Adressaten Warburgs in der Edition sind Wilhelm von Bode (24 Briefe), Franz Boll (20), Heinrich Brockhaus (23), Jacques Dwelshauvers (21), Fritz Saxl (41) sowie, mit großem Abstand, die Mutter (93) und die Ehefrau (129). Adressatinnen außerhalb der Familie sind rar: Hertha Binswanger, Toni Cassirer, Clara Dwelshauvers, Isabella von Eckardt, Marie Herzfeld, Helene Höhnk, Anna Pietsch, Helene Schweitzer-Bresslau und Lore Strack.

Ohne Warburgs Berichte an seine Mutter – gelegentlich auch an den Vater – wüsste man über den Studenten, ehrgeizigen Doktoranden und jungen Privatgelehrten Aby Warburg sehr viel weniger.[5] Warburg unternahm Forschungsreisen, aber auch Urlaube und Kuraufenthalte oft ohne seine Ehefrau und die 1899, 1902 und 1904 geborenen Kinder. Diesem Umstand verdanken sich inhaltsreiche Briefe, die Warburg teilweise selbst als „Tagebuchblatt“ oder „Tagebuchseite“ bezeichnete und um deren Aufbewahrung er bat (Bf. 232 und 300). Helgoland war für den heuschnupfengeplagten Warburg ein beliebtes Sommerreiseziel (Bf. 167, 182, 231, 267, 274 und 275, 297, 377 und 379) – der letzte Inselaufenthalt im September 1929, der Warburg die politische Klimaveränderung auf der Insel gewahr werden ließ, ist in der Edition allerdings nicht dokumentiert.[6] Kurorte waren unter anderem auch Bad Kissingen (Bf. 399), Karlsbad (Bf. 723) und Baden-Baden (z. B. Bf. 480 bis 482, 535 bis 537, 551, 582, 682, 702 bis 704, 760, 761 und 793). Warburg hielt sich oft zu verschiedenen Anlässen in Berlin auf. Der Lebensstil des ungebundenen und finanziell unabhängigen Privatgelehrten scheint hier und an anderen Stellen durch.

 

IV.

Bekannt sind die selbstquälerisch-kämpferischen Reflektionen Warburgs auf seinen akademischen Außenseiterstatus, ohne Habilitation und institutionelle Verankerung. Nuancenreich zeigen die Briefe seine heikle physische und psychische Disposition, verstärkt offenbar durch Erfahrungen aus Kindheit und Schulzeit (Bf. 633 und 634). In einem Brief an seine Frau vom Juni 1902 klagte er über die Überbeanspruchung seiner „Nervenkraft“, über Ablenkbarkeit und Schwierigkeiten, mit familiären Erwartungen umzugehen, die sein Bruder Max formulierte (Bf. 231): „Kunst u. Bureau dürfen nicht zu nahe kommen. Es ist schon mein Pech, daß das Comptoirideal mich viel zu sehr beeinflußt. Eigentlich bin ich ja ein Dichter, das weißt Du doch?“ Gegenüber Wilhelm von Bode bemerkte Warburg im Dezember 1905, er habe sich durch die Arbeit an einem Aufsatz („anderes kam hinzu“) „eine tüchtige nervöse Attacke zugezogen“ (Bf. 289). Terminvereinbarungen für Publikationen stellten für Warburg mitunter eine unüberwindbare Hürde dar. An Hans von der Gabelentz, seit 1912 Direktor des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, schrieb Warburg im Juni 1914 (Bf. 498): „Meine Gönner, Freunde und ich haben bisher mit mir die allerschlechtesten Erfahrungen, sobald die Zusage eines druckfertigen Manuskriptes auf einem bestimmten Termin vorlag. Es ist Tatsache, dass eine solche Zusage mich in einer Weise hemmt, die unter Umständen den Abschluss eines Mss. gänzlich in Frage stellt.“

Eine Reihe von Briefen belegen Warburgs zunehmende innere Anspannung nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Bereits im August 1914 wies Warburg das Generalkommando des IX. Armeekorps auf ein aus seiner Sicht unzureichend gesichertes Waffengeschäft in Hamburg hin; der von ihm vorgefundene Zustand „friedlicher Wehrlosigkeit“ erscheine ihm „in Anbetracht möglicher Unruhen bedenklich“ (Bf. 503). Publizistischen Bemühungen Warburgs in den ersten Kriegsjahren („jeder muss jetzt für Deutschland thun, was er kann“; Bf. 533 an Olaf Gulbransson) war kaum Erfolg beschieden. Gegenüber seinem Schwager Wilhelm Hertz sprach er im Oktober 1916 von der „Ideenwelt eines gequälten Neurasthenikers“ (Bf. 560). Ein Beschwerdebrief an die Hamburger Straßenbahngesellschaft schilderte im April 1918 eine nichtige Auseinandersetzung mit einer Schaffnerin, deren „energische Bestrafung“ Warburg forderte (Bf. 574).

Fast sechs Jahre verbrachte Warburg nach seinem Zusammenbruch im Herbst 1918 in Heilanstalten und Kliniken. Aufenthaltsorte waren zunächst Hamburg, Mölln, Alsbach an der Bergstraße und Jena. Von Frühjahr 1921 bis August 1924 lebte Warburg in einem Sanatorium in Kreuzlingen am Bodensee unter Ludwig Binswangers Obhut (Bf. 620 bis 662).

In einem Brief an Binswanger vom November 1924, drei Monate nach Warburgs Hamburg-Rückkehr, heißt es (Bf. 671): „Ich werde aber auch darin jetzt normal, daß ich wieder für meine Lieben unbequem zu werden beginne; soll aber mit Maßen geschehen.“ Für die Familie dürfte das Zusammenleben oft schwierig gewesen sein. Frede Warburg überlegte im Frühjahr 1929, ihr Studium in München fortzusetzen; ihr Vater war strikt dagegen (Bf. 783): „Welcher Professor ist so unersetzlich, dass Du Dich in eine Stadt hineinbegeben willst, wo der bis zur Tollheit gepflegte Antisemitismus Dich der Brüskierung aussetzt, wie ich denn auch der Meinung bin, dass solange die Saubayern die Hitlerei hätscheln, kein Norddeutscher, ganz abgesehen von seiner Konfession, das Recht hat sich und sein Geld nach Bayern zu tragen.“ Es folgen harsche Vorwürfe an die Tochter, die man nicht gern liest. Der Suizid von Warburgs jüngerer Schwester Olga Kohn-Speyer im August 1904 in Bern kommt in den Briefen dagegen nicht vor; auf einen Brief vom 1. Juli 1904 (Bf. 267) folgt das nächste Schreiben erst am 22. Oktober 1904 (Bf. 268).

Die Herausgeber haben dem Briefkorpus Zitate von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno vorangestellt. Benjamins Aussage aus einem Rundfunkbeitrag vom Januar 1932, dass „jene Unterscheidung von Mensch und Autor, von Privatem und Objektivem, von Person und Sache mit zunehmender historischer Distanz zunehmend ihr Recht verliert“ („Dergestalt, daß auch nur einem bedeutsamen Briefe wirklich gerecht werden, in allen seinen sachlichen Bezügen, allen seinen Anspielungen und Einzelheiten ihn aufzuhellen, bedeutet, mitten in das Menschliche zu treffen“), ist ein Interpretationsangebot.[7] Der Einschätzung, dass sich Warburgs Briefe „in der Form eines Selbstporträts und einer Agenda zu einer indirekten Autobiographie“ fügen (Bd. V.1, S. 17), kann man jedenfalls zustimmen.


V.

Vorlage der Edition sind in vielen Fällen nicht Originalbriefe, sondern in London verwahrte Durchschläge oder Abklatschkopien, die Warburg, wie erwähnt, in Geschäftskopierbüchern vornahm. Eingangs der Kommentierung sind unter dem Stichwort „Überlieferung“ Details genannt. Dort stehen auch Hinweise auf frühere Veröffentlichungen wiedergegebener Briefe.

Eine systematische Suche nach Warburg-Korrespondenz außerhalb des Londoner Nachlasses, ob veröffentlicht oder nicht, dokumentiert die Edition nicht. Eine solche Dokumentation wäre naheliegend gewesen, angesichts des Projektvorlaufs und diverser Vorarbeiten. Es trifft vermutlich zu, wie Michael Diers einleitend festhält, dass nur ein Bruchteil der von Warburg verschickten Briefe über die Zeiten gekommen ist. Jedoch wäre der Versuch einer Übersicht über das außerhalb des Warburg Institute an Korrespondenz erhalten Gebliebene wichtig. Man stieße dabei auf Auslassungen in der Edition, die durch ihren Auswahlcharakter nicht gedeckt sind. Die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen verwahrt unter anderem Briefe Warburgs an Karl Dilthey und Wolfgang Stechow. Das Staatsarchiv Hamburg besitzt Briefe Warburgs an den Historiker und Archivar Hans Nirrnheim aus dem Zeitraum 1887 bis 1925.[8] Alle Genannten tauchen in der Edition nicht als Korrespondenzpartner auf. Die Liste ließe sich verlängern.

Nachteilige Folgen hat die Fokussierung auf das Archiv des Warburg Institute in den Fällen, in denen Briefe in Folge eines ungenau durchgeführten Kopiervorgangs nur lückenhaft wiedergegeben werden können. Das betrifft zum Beispiel die Briefe an Jacques Dwelshauvers vom April 1908 (Bf. 348; mit Abbildung der Abklatschkopie) und an Paul Warburg vom Dezember 1910 (Bf. 411).

Gravierender sind Fälle, in denen tatsächlich verschickte Schreiben Warburgs ohne Mühe auffindbar sind. Am 24. Dezember 1892 sandte Warburg aus Frankfurt am Main ein Exemplar seiner kurz zuvor erschienenen Botticelli-Dissertation an Robert Vischer, verbunden mit der Hoffnung, „daß durch die vorl. Arbeit der Zusammenschluß zwischen Aesthetik und Kunstgeschichte etwas gefördert wird“. In der Edition taucht das Schreiben, dessen Original sich in Vischers Nachlass in der Universitätsbibliothek Tübingen befindet und in der Datenbank Kalliope verzeichnet ist, mit leicht abweichendem Wortlaut als auf den 23. März 1892 datierter „Entwurf“ auf (Bf. 76).

Eine Briefkarte von Warburg an Ludwig Klages vom 4. November 1912 (Bf. 458) wird in der Edition unvollständig und fehlerhaft nach einem Kopierbuchabklatsch wiedergegeben. Das Original im Klages-Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach ist gut lesbar: „Hochverehrter Herr, Erst vor einigen Tagen bin ich von Rom, wo mich ein Kongress in Athem hielt, zurückgekommen, so daß ich Ihnen nicht früher für Ihren Artikel danken konnte […] nehmen Sie diesen jetzt entgegen mit der Versicherung, daß ich ihnen herzlich dankbar bin für das Freibillet auf ihrem aviatischen Denkfahrzeug, das durch unentdeckte Region von wunderbarem Farbenspiel so sicher einhergleitet. Ich will baldigst an Ihre ‚Charaktereologie‘ herangehen, da mein eigentliches wissenschaftliches Interesse dem noch ungeschriebenen Werk ‚Historische Psychologie des menschlichen Ausdruckes‘ zugewandt ist […]. – Es scheint mir eine leise Möglichkeit vorhanden, Ihre Denkweise [?] hier an der richtigen Stelle heraustreten zu lassen; dagegen werde ich meine Hand nicht dazu bieten, Ihre Gedankenwelt als Pöbelfutter konsumieren zu lassen.“

Eine Liste vollständig oder auszugsweise veröffentlichter Briefe von und an Aby Warburg fiele nach Jahrzehnten intensiver Warburg-Forschung umfangreich aus. Bibliographische Hinweise in einer ausführlicheren Einleitung wären nützlich gewesen und hätten beispielsweise Ernst Robert Curtius, Robert Eisler, Friedrich Gundolf, Raymond Klibansky und Robert Münzel, die als Adressaten allesamt nicht vertreten sind, zu ihrem Recht kommen lassen. Forschende werden nicht nur hier auf die Grenzen einer Auswahledition im Rahmen einer – so die missverständliche Bezeichnung – Studienausgabe hingewiesen. Ohne ergänzende Archiv- und Literaturstudien wird man auch künftig nicht auskommen, das gilt nicht nur für die Briefe an Warburg, sondern auch für seine eigenen Briefe.

 

VI.

Band V.2 enthält eine sachkundige Kommentierung nach dem Lemmata-Verfahren (um die Briefe „nicht mit einem diakritisch-editorischen Zeichenapparat zu überladen“), die kaum Wünsche offenlässt. Zusammenhänge, die sich nicht aus dem Kontext ergeben, werden in vorangestellten Notizen erläutert (z. B. Bf. 15, 188, 273, 357, 607, 611 und 752). Angaben werden selten um bibliographische Belege ergänzt; mit dem Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur im Anhang des zweiten Teilbandes kommt man bei Bedarf oft weiter. Überdies stehen die von Dorothea McEwan als Archivarin des Warburg Institute in den 1990er Jahren erstellten elektronischen Briefregesten zur Verfügung; sie sind durch die Auswahledition nicht obsolet geworden, aus den angegebenen Gründen.

Lücken und sachliche Fehler in der Kommentierung oder Fehler im Register gibt es nur wenige. In Auswahl: Carl Eggert, Vorsitzender eines traditionsreichen Hamburger Schachclubs, fehlt im Personenregister; die „Eggertschen Schachaufgaben“, die Warburg als Schüler löste, werden in einem Brief an den Bruder Max erwähnt (Bf. 208). Pauline Bufe, Betreiberin einer Pension und über Jahre Warburgs Gastgeberin auf Helgoland, fehlt im Personenregister (Bf. 275); die im Kontext eindeutige Erwähnung August Diedrich von der Ostens im selben Brief lässt das Register aus. Von Hermann Lobers, für das Berliner Kupferstichkabinett tätig, fehlt im Register der Vorname (Bf. 370). Der Vorname von Erich Graefes Vater lautete Max (Bf. 515). Die Briefe 552 und 553 stehen in falscher chronologischer Reihenfolge. Mary Warburg hielt sich im Sommer 1916 nicht an der Müritz in der Mecklenburgischen Seenplatte, sondern in Müritz an der Ostsee auf (Bf. 555). Der Name von Julius Bintz (1848–1891), der dem jungen Warburg privaten Altgriechisch-Unterricht erteilte, ist in Kommentar und Register falsch geschrieben (Bf. 634). Im Personenregister sind die Namen von Carl von Dapper und Salomon Fürth falsch geschrieben. Margarete Ruben geb. Lubarsch (1893–1980), erwähnt in Brief 654 und nur sehr knapp kommentiert, war als Psychologin tätig und mit Anna Freud befreundet; sie emigrierte 1938 nach Italien, von dort nach Großbritannien und später in die USA. Ihr Ehemann Ludwig Ruben, Augenarzt und im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, war Patient im Sanatorium in Kreuzlingen. Im Register fehlt der Vorname von Fritz Wendel, „Hauswart“ der Bibliothek Warburg, der bis 1938 mit seiner Ehefrau im Souterrain des Bibliotheksgebäudes in der Heilwigstraße 116 wohnte und auch in der Scherzfestschrift zu Warburgs 60. Geburtstag vorkommt (Bf. 704 und 768). Warburgs Brief an Fritz Saxl vom 16. April 1928 (Bf. 747) wurde nicht in Berlin, sondern in Hamburg verfasst. Bei Warburgs Besuch bei Albert Einstein im September 1928 war Elsa Staude (1875–1962) anwesend, die in der Kommentierung übergangen wird und im Register ohne Vornamen auftaucht (Bf. 759). Im Register fehlt die von Warburg regelmäßig beauftragte Druckerei Gustav Petermann in Hamburg (Bf. 768). Dürftig kommentiert wird eine Erwähnung des katholischen Laienpriesters George J. Juillard, den Warburg 1896 in New Mexico kennengelernt hatte (Bf. 779; „Pére Guillard“). Marc Rosenberg, ein Verwandter Warburgs, taucht im Register der Briefempfänger doppelt auf (Bd. V.1, S. 781).

Briefe (in Bd. V.1) und Kommentierung (in Bd. V.2) sind durch ein Personenregister im zweiten Teilband erschlossen. Es gibt darüber hinaus ein Register der in den Briefen erwähnten Warburg-Schriften und -Vorträge. Ein Sach- und Ortsregister als Erschließung der Korrespondenzinhalte fehlt; das ist bedauerlich, zumal die Edition nur in gedruckter Form erscheint. Sinnvoll zur Orientierung wäre eine biographische Zeittafel gewesen.

„Statt eines Nachworts“ bietet der zweite Teilband das Faksimile einer Scherzschrift, die Warburg zu seinem 60. Geburtstag im Juni 1926 von Bibliotheksmitarbeitern und Freunden überreicht wurde (S. 585–598). Anspielungen auf Warburgs Idiosynkrasien waren für den engeren Kreis augenscheinlich naheliegend; die Scherzschrift weist, wie auch einige Briefe, auf die Fähigkeit des Geehrten zur Selbstironie hin.

 

VII.

Warburgs Briefe stecken voller überraschender Details – als Beispiel sei ein Beschwerdebrief an die Hamburger Elektrische Droschken Automobil Gesellschaft zu den Tücken der Elektromobilität von 1910 genannt; das bestellte Fahrzeug blieb nach kurzer Fahrt mit leerer Batterie liegen, nach Warburgs Vermutung verursacht durch „mangelhafte elektrische Verproviantirung“ (Bf. 404).

Ob die Warburg-Briefe sich für eine zusammenhängende Lektüre eignen – das ist schwer einzuschätzen; es handelt sich vor allem um eine – erstrangige – biographische Dokumentation. Literarische Ansprüche werden nicht befriedigt, obwohl Warburg zweifellos ein guter Stilist war, dem lebendige Briefkultur leichter fiel als wissenschaftliches Schreiben und der zumindest vor dem Ersten Weltkrieg der „Telephonage“ (Bf. 267) eher abgeneigt war („recht ungenügend“ und „unnötiger Consum v. Nerven-Schmalz“; Bf. 392 und 399).

Aus den Briefen über einen Zeitraum von mehr als vier Jahrzehnten ergibt sich ein komplexes und differenziertes Bild, das an Tiefe und Schärfe über die meisten bisherigen Warburg-Publikationen hinausgeht. Im Rahmen der Studienausgabe der Gesammelten Schriften Warburgs, die seit 1998 erscheint, stehen die Briefe neben dem von Warburg, Gertrud Bing und Fritz Saxl geführten Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (2001) sowie den Bildern aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika. Vorträge und Fotografien (2018). Der vor rund 25 Jahren erstellte Editionsplan der Gesammelten Schriften sah neben den Briefen auch Auszüge aus Warburgs Tagebuch vor; dieses Vorhaben wurde aufgegeben. Dagegen erscheinen hoffentlich bald der Katalog der Bibliothek Warburg mit dem Bestand vor ihrer Übersiedlung nach London sowie die Kleinen Schriften und Vorträge.

Verdienstvoll wäre es, bestimmte Korrespondenzen Warburgs vollständig zu edieren, mit allen Briefen und Gegenbriefen. Michael Diers nennt als geeignet hierfür beispielhaft André Jolles, Jacques Dwelshauvers und Franz Boll (Bd. V.1, S. 17). Heinrich Brockhaus hat seine Korrespondenz mit Warburg 1931 an die Witwe übersandt, es liegt also ein kompletter Austausch vor. Reizvoll wäre eine Mikrodokumentation der Korrespondenz der Eheleute Aby und Mary Warburg – in Frage käme etwa der Kriegssommer 1916, den Mary mit den Kindern an der Ostsee verbrachte (weshalb Anlass für schriftlichen Austausch der Eheleute bestand). Demnächst erscheinen Briefe und Postkarten Warburgs an die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel.[9]

Handlich sind die vorliegenden Bände nicht, das macht sich bei Parallelnutzung von Brief- und Kommentarband bemerkbar. Einband und Ausstattung sind nüchtern-zweckmäßig, die Typographie zeichnet sich durch Klarheit und Lesefreundlichkeit aus. Hervorzuheben ist der vergleichsweise günstige Ladenpreis, der sich für die Verbreitung als hilfreich erweisen wird.

 

Postskriptum

Ende Juli 2022 hat das Rote Antiquariat in Berlin einen Verkaufskatalog mit einer 373 Nummern umfassenden Warburg-Sammlung von Michael Diers veröffentlicht. Enthalten sind mehrere Widmungsexemplare (mit Zueignungen Warburgs an Adolph Goldschmidt, Carl Georg Heise, Arnold Kiesselbach, Gerhard Langmaack und Anton May), außerdem eine Postkarte, die Warburg im Januar 1926 an seinen Mentee Carl Georg Heise geschickt hat (Nr. 17), sowie ein Kondolenzbrief an Heises Mutter Helene vom 12. Juli 1916 zum Suizid ihres Ehemanns George Charles Hesse, Heises Stiefvater (Nr. 9). Beide Korrespondenzstücke, die wohl aus dem in den 1970er Jahren aufgelösten Nachlass Heises stammen, haben keinen Eingang in die Briefauswahlausgabe gefunden.



[1] GINA THOMAS: Aby-Warburg-Edition. Kontorbücher des Bildungsmaklers. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 83, 6. April 1984, S. 27.

[2] Diesen und den nachfolgend zitierten Bf. 47 hat bereits CHARLOTTE SCHOELL-GLASS: Aby Warburg und der Antisemitismus. Kulturwissenschaft als Geistespolitik. Frankfurt am Main 1998, S. 253–255, ediert.

[3] BÄRBEL HEDINGER und MICHAEL DIERS; mit ANDREA VÖLKER: Mary Warburg. Porträt einer Künstlerin. Leben – Werk. Mit einem kommentierten Werkverzeichnis sowie Aufsätzen von Jutta Braden, Michael Diers, Steffen Haug, Bärbel Hedinger, John Prag, Andrea Völker und Martin Warnke. München 2020.

[4] Die sechs Briefe an Cassirer sind enthalten in: ERNST CASSIRER. Ausgewählter wissenschaftlicher Briefwechsel. Als Beilage: DVD-ROM mit sämtlichen bislang aufgefundenen Briefen von und an Ernst Cassirer. Hrsg. von John Michael Krois unter Mitarbeit von Marion Lauschke, Claus Rosenkranz und Marcel Simon-Gadhof (Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 18). Hamburg 2009. Vier der fünf an Panofsky beziehungsweise an Panofsky und Fritz Saxl gemeinsam adressierten Briefe wurden veröffentlicht in: ERWIN PANOFSKY. Korrespondenz 1910 bis 1936. Hrsg. von DIETER WUTTKE (Erwin Panofsky. Korrespondenz 1910 bis 1968. Eine kommentierte Auswahl in fünf Bänden, Bd. I). Wiesbaden 2001. Eine „zweite Auflage“ des Briefes an Saxl und Panofsky vom 19. Februar 1923 ist abgedruckt in DIETER WUTTKE: Im Fokus: Warburg und Warburg-Kreis. Beiträge 1966 bis 2019. Hrsg. von Petra Schöner (Saecvla Spiritalia, Bd. 52). Baden-Baden 2020, S. 542 f.

[5] Das hat BERND ROECK in Der junge Aby Warburg, München 1997, unter ausgedehnter Verwendung des Londoner Nachlasses gezeigt.

[6] JAN RÜGER: Helgoland. Deutschland, England und ein Felsen in der Nordsee. Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. Berlin 2017, S. 275 f.

[7] WALTER BENJAMIN: Auf der Spur alter Briefe. In: DERS.: Rundfunkarbeiten. Hrsg. von Thomas Küpper und Anja Nowak (Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 9). Berlin 2017, hier Bd. 9.1, S. 505–508, hier S. 507.

[8] Zitate daraus bei MANFRED ASENDORF: Von verschämtem Antisemitismus zum „Arierparagraphen“ – der Verein für Hamburgische Geschichte und die Ausgrenzung seiner jüdischen Mitglieder. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 141/142 (2005/2006), S. 159–287.

[9] HOLE RÖSSLER: „Ist der Punkt vorhanden?“ Aby Warburgs Beziehungen zur Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, 1901–1918. Eine kommentierte Edition der Korrespondenz aus dem Bibliotheksarchiv. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 77 (2022) S. 119–139 [im Druck].