Sonntag, 14. Juli 2024

Sternenfreundschaft. Die Korrespondenz Aby Warburg und Franz Boll

 
Björn Biester, bjoern.biester@gmail.com
 
Dorothee Gelhard hat kürzlich im Wallstein Verlag in Göttingen die Korrespondenz zwischen Aby Warburg und Franz Boll herausgegeben, die im Dezember 1909 mit einem Brief Warburgs an Boll beginnt und wenige Monate vor Bolls Tod am 3. Juli 1924 abbricht. Es handelt sich um insgesamt 246 fortlaufend nummerierte Briefe und Postkarten, darunter jeweils ein Brief Bolls an Aby Warburgs jüngeren Bruder Max (Nr. 180, 17. Dezember 1919) und an Fritz Saxl (Nr. 242, 20. Februar 1924).
Die Korrespondenz behandelt u. a. kunst-, astrologie- und astronomiegeschichtliche Fragen, Bibliographisches und Sonderdrucke, Beschaffung von Fotografien zu Forschungszwecken, persönliche Verabredungen und gemeinsame Vorhaben (Boll beteiligte sich etwa im August 1913 an den Akademischen Ferienkursen in Hamburg), Fritz Saxl (einschließlich seiner von Warburg missbilligten Eheschließung; Nr. 93, 13. November 1913) sowie das Kriegsgeschehen nach 1914. Mehrere Schüler Bolls sowie Kollegensöhne fielen als Soldaten, Boll engagierte sich in der Verwaltung eines Lazaretts. Weitere Themen sind die erst 1919 nach längeren Auseinandersetzungen begründete Hamburger Universität (der Boll dann skeptisch gegenüberstand; vgl. Nr. 171, 25. April 1919: „sozialistische Parteienuniversität?“) und die Nachfolgeregelung für den im Juli 1917 verstorbenen Robert Münzel als Direktor der Hamburger Stadtbibliothek (die personellen Überlegungen, die Warburg und Boll in dieser Hinsicht anstellten, blieben unberücksichtigt; vgl. Nr. 162).
Natürlich spielen Warburgs berühmte Abhandlung ‚Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten‘, die auf Bolls Vermittlung im März 1921 in den Sitzungsberichten der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften erschien, sowie seine schwere psychische Erkrankung ab Oktober 1918 eine Rolle. Ein roter Faden durch Teile der Korrespondenz sind Mühen, die das Schreiben und Publizieren dem skrupulösen Hamburger Privatgelehrten bereiteten. Boll besuchte den kranken Warburg mehrfach, nach 1921 im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee, aber auch schon 1919 in einer ähnlichen Einrichtung in Alsbach an der Bergstraße. Privates und Familiäres wird in der Korrespondenz eher am Rand erwähnt; wir erfahren allerdings von Erholungsurlauben, Warburgs ‚Heufieber‘, dem Ableben von Bolls Eltern (Nr. 124 und 205), Krankheiten und Operationen der Ehefrauen und von Bolls Geld- und Statussorgen in den schwierigen Jahren nach 1918 (Nr. 193; September 1920). Warburg antwortete großzügig-entgegenkommend, über mögliche Peinlichkeiten hinweggehend (Nr. 194). Warburgs Sohn Max Adolf studierte ab dem Sommersemester 1922 bei Boll in Heidelberg. Zu einem Vortrag Bolls an der Bibliothek Warburg in Hamburg kam es nicht mehr, obwohl sich Warburg (und auch Fritz Saxl) das sehr gewünscht hatte: „Und jetzt, wo Wilamowitz bei uns gesprochen hat, gehören Sie einfach schon aus Vollständigkeits-Rücksichten unserer Hamburger Walhalla dazu. Ich weiß nicht, wozu unsere ‚Sternenfreundschaft‘ gedient hätte, wenn Sie nicht endlich sich auch in die Ihnen gebührende Nische verfügen.“ (Nr. 245, 29. April 1924; vgl. Nr. 244, 24. März 1924 – der von Warburg erwähnte Zeus-Vortrag von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff fand am 26. April 1924 statt, nicht 1923, wie S. 315 in Anm. 1 angegeben)
Dorothee Gelhards Aussage, Franz Boll, standesbewusster Heidelberger Ordinarius, der ehrenvolle Rufe nach Wien und Berlin ablehnte, Verfasser des weithin rezipierten Buches ‚Sphaera. Neue griechische Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Sternbilder‘ von 1903, sei „heute fast in Vergessenheit geraten“ (S. 327), trifft wohl zu. Dagegen ist die Behauptung, Warburgs Beziehung zu Boll habe „bisher wenig Beachtung gefunden“ (S. 324), unrichtig. Dorothea McEwan gibt in ‚Ausreiten der Ecken. Die Aby Warburg – Fritz Saxl Korrespondenz 1910 bis 1919‘, 1998 veröffentlicht, sechs Schreiben Warburgs an Boll wieder. 2008 hat Davide Stimilli unter Mitarbeit von Claudia Wedepohl Warburgs Vortrag „in Gedenken an Franz Boll und andere Schriften 1923 bis 1925“ ediert (2009 und 2014 erschienen italienische Übersetzungen). Aus Maurizio Ghelardis Feder stammt u. a. ein Aufsatz ‚Aby Warburg e Franz Boll: un’amicizia stellare‘ von 2002, der den Titel der vorliegenden Edition vorwegnimmt. Es gibt Wolfgang Hübners aufschlussreiche Studie ‚Das Sternbild Perseus. Teukros und die Rezeption antiker Astrologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei Franz Boll und Aby M. Warburg‘ von 2022 (von Gelhard nirgends angeführt). Die 2021 von Michael Diers und Steffen Haug mit Thomas Helbig herausgegebene Warburg-Briefauswahl enthält 20 Briefe und Postkarten Warburgs an Boll – klug nach inhaltlicher Relevanz ausgewählt, wie sich jetzt nachprüfen lässt.
 
Trotzdem ist eine vollständige Edition der wechselseitigen Korrespondenz höchst willkommen, weil jedenfalls für die Spezialforschung auch die Nuancen eines Gelehrtenbriefwechsels und neue Details interessant sind. Auf einem anderen Blatt steht, ob das von Dorothee Gelhard Vorgelegte dem entspricht, was man von einer solchen Edition erwartet. Man vermisst in der ‚Editorischen Notiz‘ detaillierte Angaben zur Überlieferung der Korrespondenz (was ist im Original oder als Abschrift vorhanden? was ist wohl vor allem auf Bolls Seite verlorengegangen? wurde Warburgs "Merkbuch für Correspondenz", in dem er ausgehende Briefe notierte, ausgewertet?). Sinnvoll wäre ein Hinweis gewesen, dass Warburgs Briefe an Boll in Heidelberg digitalisiert worden sind, https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2108_245 (so auch Fritz Saxls Briefe an Franz Boll) und Abschriften vorliegen, die Michael Diers vor langer Zeit in Martin Warnkes Auftrag angefertigt hat. In den Digitalisaten stößt man auf eine Zusendung Warburgs an Boll vom 19. November 1917, die bei Gelhard fehlt (https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2108_245_58; vgl. WIA GC/35147). Eine auf den 23. November 1917 gestempelte Postkarte Bolls (Nr. 162) ist die Antwort hierauf („besten Dank für den interessanten Bericht über Ihren Vortrag“).
Warburgs auf den 17. Dezember 1917 datierte Antwort auf eine Postkarte Bolls vom 15. Dezember 1917 (Nr. 163), im Abschlussband seiner ‚Kopierbücher‘ als Abklatsch enthalten (vgl. WIA GC/12432; nicht im Archiv des Warburg Institute = WIA in London nachgeprüft), fehlt ebenfalls (siehe den expliziten Hinweis von Michael Diers auf die Kopierbücher in der Briefausgabe von 2021, dort S. 33, Anm. 43).
Nr. 170 ist in der Edition falsch unter 1918 eingeordnet. Die richtige Datierung lautet 17. November 1915; eine leidige Bibliotheksstempelangelegenheit – Warburg hatte in einem antiquarisch erworbenen Exemplar von Hans Balmers ‚Die Romfahrt des Apostels Paulus und die Seefahrtskunde im römischen Kaiserzeitalter‘ von 1905 den Stempel der Heidelberger theologischen Seminarbibliothek entdeckt und bat Boll um Mithilfe bei der Aufklärung, ob das Buch dort entwendet wurde – nimmt hier ihren Anfang und zieht sich über Monate (vgl. Nr. 121, 124, 131, 133 und 134).
Bolls Postkarte vom 15. Dezember 1911 (Nr. 40) scheint die Antwort auf Warburgs Brief vom 21. Dezember 1911 (Nr. 41) zu sein – Boll reagiert auf Mary Warburgs überstandene Grippeerkrankung, die Mitteilung wissenschaftlicher ‚Funde‘ sowie auf Warburgs Vortrag in seinem Hamburger Freundeskreis (dem „Kränzchen“) am 16. Dezember 1911. Wie ist dieses Rätsel aufzulösen?
Falsch datiert wird schließlich Nr. 108 auf den 8. März 1915; der Poststempel lautet 8. März 1913 (Digitalisat: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2108_245_32). Es handelt sich um Warburgs direkte Antwort auf eine Postkarte Bolls vom 6. März 1913 (Nr. 79). Die Bestätigung „R. kriegt was er verdient“ bezieht sich entsprechend nicht auf Wilhelm Heinrich Roscher (so Gelhards Auflösung), sondern auf Friedrich Röck (Boll: „Mit der Deutlichkeit meiner Aussprache gegenüber Röck waren Sie hoffentlich zufrieden!“).
 
Solche Unregelmäßigkeiten wecken Argwohn hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Edition insgesamt, zumal auch die Transkription Lücken aufweist (in Nr. 126 heißt es vermutlich: „Schade um Külpe u. diesen!“; in Nr. 147 meint Warburg, er müsse "eigentlich repariert werden", nicht "separiert"; vgl. Nr. 108, Vorschlag für eine von Gelhard als „unleserlich“ bezeichnete Stelle: „der Vergesskopf aus Lohr ist ebenfalls eine feine Type“ – siehe das oben verlinkte Digitalisat und Franz Boll: Die Lebensalter, 1913, S. 3, Anm. 2, https://www.digi-hub.de/viewer/!toc/BV044212589/1/LOG_0000/).
 
Darüber hinaus ist Gelhards Kommentierung, die das biographisch und zeitgeschichtlich interessante, aber über weite Strecken recht spröde Material erst für einen breiteren Leserkreis erschließen müsste, an vielen Stellen unbefriedigend. Es gibt Lücken sowie kleine und größere sachliche Fehler.
In Nr. 3 hätte man auf die Jahrhundertfeierlichkeiten der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin vom 10. bis 12. Oktober 1910 hinweisen können.
In Nr. 52 (25. Februar 1912) geht es um die Verleihung des Professorentitels an Warburg durch den Hamburger Senat (Boll übermittelt Glückwünsche „zu Ihrer Auszeichnung“). Für Warburg spielte diese Anerkennung durch seine Vaterstadt eine kaum zu überschätzende Rolle.
Für die Annahme, in Bolls Brief vom 7. März 1915 (Nr. 107) sei vom Ableben eines entfernteren Verwandten Warburgs die Rede, gibt es keinen Anhaltspunkt. Bezug ist wahrscheinlich der Tod von Warburgs Schwiegermutter Maria/Mary Hertz geb. Goßler am 22. Februar 1915 (vgl. explizit Nr. 109, 31. März 1915).
In Nr. 125 (6. Januar 1916) steht Bolls Nachsatz „G. wird offenbar nichts! Na ja!“ für Göttingen bzw. die Universität Göttingen, nicht für die apulische Hafenstadt Gallipoli. In Nr. 126 (11. Januar 1916) scheint Warburg über den außerplanmäßigen Professor Max Pohlenz als Lehrstuhlnachfolger des im Herbst 1915 verstorbenen Ordinarius Paul Wendland zu sprechen („Sparsystem“). Eine Aufklärung aus Unterlagen des Göttinger Universitätsarchivs hätte vermutlich auch an anderer Stelle für Durchblick gesorgt (z. B. S. 152 Anm. 2, Nr. 121, 21. November 1915: „Nicht zu ermitteln“ zu Bolls Satz „Von G.? Ja da höre ich nichts, und ich natürlich zu allerletzt.“). In einem Brief Warburgs an Carl Heinrich Becker vom 30. September 1915 taucht eine eventuelle Berufung Bolls auf Wendlands Professur auf (Kopierbuch VI, 158). In der von Gelhard, wie oben dargelegt, falsch eingeordneten Nr. 170 (17. November 1915) heißt es (von der Herausgeberin unkommentiert): „Ueber G. habe ich noch nichts gehört; Sie etwa?“
Bolls Anmerkung (Nr. 134, 24. März 1916) „Eben lese ich von den 10600 Millionen! Das ist also doch wieder gut gegangen.“ meint die Zeitungsberichterstattung über die vierte deutsche Kriegsanleihe (Gelhard: „Es ist unklar, worauf Boll sich hier bezieht.“).
Nr. 135 (5. Mai 1916) spricht von einem Artikel Franz Bolls in der ‚Frankfurter Zeitung‘ – Warburg findet ihn „famos“; bibliographische Angaben fehlen, die Anmerkung löst lediglich „in d. Fr. Ztg.“ auf.
In Nr. 141 hätte man Bolls Nachsatz „Was wohl das U53 in Amerika bedeuten (oder ‚wirken‘) soll?!“ mit dem überraschenden Einlaufen des deutschen U-Boots U 53 in den Hafen von Newport, Rhode Island, am 7. Oktober 1916 erklären können (statt eines allgemein-nichtssagenden Verweises auf den U-Boot-Krieg); es gibt hierzu einen eigenen Wikipedia-Artikel.
In Nr. 152 (15. Juni 1917) berichtet Warburg nicht von einem Telefonat mit dem 1911 verstorbenen Hugo von Tschudi, gemeint ist der Historiker und Turkologe Rudolf Tschudi (vgl. Nr. 153 und 154).
Am 14. Juli 1917 (Nr. 153) erwähnt Boll einen „Harnackbrief“ („sei er wie er sei“) – der Bezug konnte laut Gelhard „nicht ermittelt werden“, es folgt dennoch eine überlange Fußnote. Zutreffend gewesen wäre ein Hinweis auf einen im ‚Bayerischen Kurier‘ vom 12. Juli 1917 böswillig verfälscht wiedergegebenen Brief Adolf Harnacks, der reichsweit von der Presse aufgegriffen wurde und zum Rücktritt des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg beitrug (Harnacks Reputation wurde nachhaltig beschädigt).
Das in Nr. 160 von Boll als „fleissige Hörerin“ genannte „Frl. Blumenfeld“ ist Margarethe Blumenfeld (geb. 1894), Tochter von Warburgs Cousine Anna Blumenfeld, die seit dem Sommersemester 1917 in Heidelberg studierte.
Helfried Hartmann (1894–1957), von Boll im Dezember 1919 als Mitarbeiter der Bibliothek Warburg empfohlen (Nr. 180; vgl. Warburgs Antwort, Nr. 181), war später als selbständiger Antiquariatsbuchhändler in Heidelberg und ab 1923 in Hamburg tätig. Im Herbst 1924 schätzte er für Warburg Franz Bolls private Bibliothek auf der Grundlage einer von der Boll-Schülerin Emilie Boer angefertigten Bestandsliste.
„H. Prof. Indrich“ (Nr. 198, 2. Dezember 1920) – von Gelhard „nicht ermittelt“ – ist ausweislich des WIA-Onlinekatalogs der Althistoriker Walther Judeich in Jena (Warburg war dort von Herbst 1920 bis Frühjahr 1921 in Behandlung).
Bolls Wendung „gestern habe ich meine arme liebe Frau auf dem letzten Weg begleiten müssen“ (Nr. 231, 25. Januar 1923) interpretiert Gelhard irrtümlich als Hinweis aus Ida Bolls Todesdatum (siehe https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/4c/Grabstein_Franz_Bolls_und_seiner_Frau_auf_dem_Neuenheimer_Friedhof.JPG).
Die Mängelauflistung ließe sich verlängern.
Gelhards Nachwort, in dem Stilblüten („Seit der Dissertation hatte Warburg erkannt, dass sich die Künstler der Frührenaissance mit den bildlichen Vorstellungen der Vergangenheit auseinandergesetzt haben“) und diskussionsbedürftige und fragwürdige Deutungen (z. B. zum Charakter der Beziehung Warburg-Boll – wirklich eine tiefe und enge, von großer Nähe gekennzeichnete Freundschaft? – sowie zum Neubau der Bibliothek Warburg und Ähnlichkeiten zum Jerusalemer Tempel) auffallen, soll hier außenvorbleiben, abgesehen von den Anmerkungen oben.
Das Personenregister der Edition hätte einer redaktionellen Überarbeitung bedurft (doppelte Einträge z. B. Fulgentius, Harnack, Röck, Schlosser). Es ist überdies unvollständig; es fehlen z. B. Ottilie Deubner geb. Lindley (S. 172), Paul von Hindenburg (S. 186), Max Pestalozzi, der „Schwager Pestalozzi am Neuenburger See“ (S. 305), Rudolf Bienenfeld (S. 199) und Carl Winters Universitätsbuchhandlung in Heidelberg bzw. ihr Verleger Otto Winter (S. 144, 154, 155, 157, 168, 243, 248, 313 u. ö.; der Leipziger Verlag B. G. Teubner kommt dagegen im Register vor).
Laut Verlagsankündigung erscheint das Buch mit elf Abbildungen; tatsächlich enthält es als einzige Abbildung, vom Schutzumschlag abgesehen, das bekannte Exlibris, das Warburg für die von ihm übernommenen Bücher aus Bolls privater Bibliothek entwerfen ließ.
 
Für Hinweise danke ich Stephan Grotz (Regensburg), Roland Jaeger (Hamburg/Berlin) und Andrea Rudolph (Dresden, Forum BildDruckPapier).